Der zweite Band der Urban-Fantasy-Reihe "New Gods"
Es war der schlimmste Tag, den Adeena seit langem erlebt hatte.
Als hätte irgendwo in der Stadt jemand ein Gas freigesetzt, das den Leuten den Verstand raubte und sie dazu veranlasste, mit dem Leben anderer und dem eigenen verantwortungslos umzugehen. In der Notaufnahme des Krankenhauses ging es zu wie im Sommerschlussverkauf. Nur gab es statt reduzierter Preise haufenweise Schnittwunden, Quetschungen und Knochenbrüche.
Es war drei Uhr nachmittags, das Chaos regierte bereits seit sieben Stunden ihre Station. Adeena hatte sich zum dritten Mal umziehen müssen, da ein älterer Mann mit einer Arterienverletzung sie von oben bis unten vollgeblutet hatte. Zuvor hatte sich eine junge Frau mit einer Lebensmittelvergiftung auf sie übergeben, und davor war es ein Teenager mit einer starken Blutung aus einem offenen Bruch gewesen.
»Wie ist die Lage?«, fragte Adeena, als sie von den Umkleidekabinen zurück auf die Schwesternstation der Notaufnahme kam. Corinna sah vom Computer auf, ihre ansonsten rosigen Wangen waren fahl und die rotblonden Haare standen ihr vom Kopf ab.
»Die Traumaräume Eins und Drei sind belegt und alle verfügbaren Ärzte sind im Einsatz«, antwortete Conny. »Trotzdem wird die Warteliste immer länger und länger.«
»Was ist heute nur los?«, murmelte Adeena. Sie setzte sich neben ihre Kollegin und rief das Buchungssystem der Klinik auf. Ausgerechnet heute waren sie unterbesetzt, es war zum Verrücktwerden.
»Du musst etwas essen«, kam der Befehl rechts von ihr. Ohne den Kopf zu drehen, öffnete Adeena ihren Mund und biss von dem ab, was ihr Kollege Robert ihr an die Lippen hielt. Mechanisch kaute sie – es war ein Käsesandwich - und arbeitete nebenher weiter. Wenn nicht bald aufhörte, was auch immer in der Stadt schieflief, dann würden sie einer nach dem anderen kollabieren.
»Was sagen die anderen Krankenhäuser?«, fragte Adeena.
»Bei allen dasselbe Chaos«, sagte Conny und Robert ergänzte: »Und nein, die Polizei oder die Feuerwehr wissen von keiner Katastrophe.«
Adeena fluchte vor sich hin, während sie weiter die Einträge überprüfte. Immerhin waren im Moment keine absoluten Notfälle darunter, aber das konnte sich jederzeit ändern. Ob es vielleicht …
»Ob es an einem neuen Gott liegt?«, sprach sie laut aus, was ihr durch den Kopf ging.
Conny neben ihr schnappte nach Luft. »Meinst du?«
»Die letzten drei Male war es ähnlich chaotisch«, warf Robert ein. Die Worte waren gedämpft – zu viel Käsesandwich im Weg – aber Adeena konnte ihn dennoch verstehen. Ein heiß-kaltes Prickeln lief über ihre Kopfhaut und sie strich sich durch ihre kurzen, krausen Haare.
Sie dachte an Tally, die sie übermorgen besuchen kommen würde. Mochte es egoistisch von ihr sein oder nicht, aber sie würde es sich von keiner verdammten Gottheit kaputt machen lassen, endlich ihrer besten Freundin gegenüber zu stehen. Seit Jahren hatten sie nur Kontakt über Chaträume oder in Videocalls. Die große Distanz zwischen Stockholm und Brisbane hatte ein Treffen bisher schwierig gestaltet und nahezu unmöglich war es geworden, nachdem Tallulah zu einer Gottheit aufgestiegen war. Eine von mittlerweile drei und, wenn diese verrückten Zeichen wirklich das bedeuteten, was sie glaubten, bald eine von vieren.
Der Widerstand in Adeena gegen die Vorstellung, dass gerade wieder eine Gottheit erwachte, wuchs und wuchs. Nein, sie würde Tally endlich in den Arm nehmen können. Ihre Freundin hatte sprichwörtlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Reise zu planen. Ausgerechnet jetzt durfte es einfach kein weiteres Erwachen geben.
Adeena schob diesen Gedanken beiseite, stand auf und sah zum Wartebereich hinüber. Die Patienten saßen bereits auf dem Boden und warteten darauf, behandelt zu werden.
Die breiten Türen zum Einlieferungsbereich der Krankenwagen öffneten sich und ein Sanitäterteam kam mit einer Trage hereingerollt. Matthew, ein erfahrener Notarzt, rief Fachbegriffe in ihre Richtung, die Adeena in Alarmbereitschaft versetzten.
»Shit«, sagte sie, wobei das Wort ihr eher als ein Zischen über die Lippen kam. Dann straffte sie die Schultern, wies das Team an, in Traumaraum Zwei zu gehen, und wandte sich an ihre beiden Kollegen auf der Station.
»Conny, du bleibst hier und behältst den Überblick«, ordnete Adeena an, griff nach einem neuen Paar Handschuhe und zog sie an. »Robert, du kommst mit mir.«
Ihr Kollege nickte, griff ebenfalls nach Handschuhen und sie eilten Seite an Seite hinter den Sanitätern in den Traumaraum. Adeena ließ ihren Blick über den Patienten schweifen. Ein Mann, Ende fünfzig und asiatischer Abstammung, war bei Bewusstsein und stöhnte vor Schmerzen, was ironischerweise ein gutes Zeichen war. Er trug eine Halskrause und hatte mehrere Schnittverletzungen im Gesicht, an der Brust und den Armen. Der Rest von ihm war äußerlich unverletzt, aber Genaueres würden sie erst herausfinden, wenn sie ihn behandelten.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Adeena den Notarzt.
Matthew begann, den Fall in knappen Worten zu schildern: »Autounfall. Er ist aus noch ungeklärten Gründen gegen einen Brückenpfeiler gerast und musste aus dem Fahrzeug geschnitten werden. Trauma der Halswirbelsäule, Gehirnerschütterung, mögliche Rippenfrakturen und innere Blutungen. Verdacht auf Herzinfarkt oder Schlaganfall als Unfallursache.«
»Tasukete«, wimmerte der Mann. Er griff nach Adeenas Arm, seine Hand war glitschig von Blut und er hatte Tränen in den Augen. »Tasukete … kudasai.«
Adeena verstand kein Wort und der Mann sprach offenbar kein Englisch. Verdammt.
»Wo steckt Yumiko?«, fragte Adeena und sah von dem Patienten auf. Die Kardiologin war ihres Wissens die einzige vom Klinikpersonal, die Japanisch sprach.
»Sie hat frei, ihr Sohn heiratet heute«, sagte Robert laut, um das Klagen des Patienten zu übertönen.
Auch das noch, dachte Adeena und fühlte, wie auch der letzte Rest Kraft aus ihr weichen wollte.
Eigentlich liebte Adeena ihren Beruf, so stressig er auch war, doch dieser Tag musste direkt von der Hölle erdacht worden sein, um sie alle zu foltern und an den Rand des Wahnsinns zu treiben.
Sie atmete tief ein und aus und wandte sich an eine der Sanitäterinnen. »Miriam, geh bitte nach draußen und frag, ob einer der Patienten Japanisch versteht. Wenn nicht, dann lass über Conny eine Durchsage machen.«
»Okay«, sagte die Sanitäterin und eilte davon.
Natürlich war es möglich, den Mann trotz der Sprachbarriere zu behandeln, doch jedem von ihnen war klar, dass es bei einem Trauma der Wirbelsäule essenziell war, mit dem Patienten sprechen zu können. Sollte es zu Taubheitsgefühlen oder Lähmungen kommen, mussten sie das sofort wissen.
»Iki ga dekimasen«, stöhnte der Mann. Sein Griff um Adeenas Arm wurde schwächer, sein Blick mehr und mehr unfokussiert.
Sie mussten sich beeilen.
Das hatte auch Matthew erkannt und begann, das Team zu koordinieren. Sie hatten schon öfter zusammengearbeitet und daher funktionierten sie wie eine geölte Maschine. Sie legten einen Zugang, verabreichten Medikamente und entfernten nach und nach die zerrissene Kleidung von dem Japaner. Der klagte und stöhnte weiter und versuchte, sich erfolglos mit ihnen zu verständigen.
Immer wieder warf Adeena einen Blick zur Tür, doch Miriam kam und kam nicht zurück. Das wäre ja auch zu schön gewesen.
Eine neue Welle der Erschöpfung schwappte über Adeena hinweg. Sie warf einen Blick auf den Monitor des Patienten und es war, als würde sich ein Loch unter ihr auftun: Die Werte verschlechterten sich. Auch Matthew war es aufgefallen, er fluchte und gab weitere Anweisungen.
Ich will doch nur helfen, dachte Adeena verzweifelt. Was war nur mit diesem Tag los? Würden sie den Mann gleich verlieren? Was konnten sie noch tun?
Ein Röcheln, dann sagte der Japaner: »Iki ga … kann nicht.«
Adeena blinzelte den Mann an. War das gerade Englisch gewesen? »Was haben Sie gesagt?«
Der Mann sah sie an, sein Blick klärte sich ein wenig, obwohl neue Tränen in seine Augen traten.
»Ich kann nicht atmen«, sagte er leise, aber völlig verständlich. »Mein Hals …«
Adeena widerstand dem Drang, laut zu lachen.
Sie verlor keine Zeit und begann, ihm eine Frage nach der anderen zu stellen. Seine Vitalwerte rutschten immer weiter ab und er würde gleich das Bewusstsein verlieren. Nur am Rande bemerkte sie, dass das Team um sie herum kurz innehielt und sie verwirrt anstarrte.
Der Mann hatte weder einen Herzinfarkt noch einen Schlaganfall erlitten, sondern war von einem Insekt gestochen worden. Der Schreck und der beginnende Schock hatten zu dem Unfall geführt. Seine restlichen Symptome passten zu dem Trauma, das Matthew bereits beschrieben hatte.
Adeena verlangte nach einer Dosis Epi, um die Immunreaktion auf das Insektengift zu neutralisieren. Robert drückte ihr die Spritze in die Hand und Adeena gab sie direkt in den Zugang am Handrücken des Mannes.
Wieder griff der Mann nach ihrem Handgelenk, seine braunen Augen waren gerötet und weit aufgerissen. Adeena wollte ihn beruhigen, ihm sagen, dass alles gut werden und es ihm gleich besser gehen würde, da passierte es.
Eine unbändige Kraft strömte durch ihren Körper, wie eine Sturzflut aus flüssigem Feuer, die heiß in jede ihrer Zellen brannte. Es tat weh und versetzte sie gleichzeitig in Hochstimmung.
Immer weiter potenzierte sich die Kraft in ihr, wurde größer und größer … bis Adeena es nicht mehr aushielt und anfing zu lachen. Sie lachte und lachte und lachte. Sie musste von dem Patienten ablassen und sich gegen die Wand des Traumaraums lehnen, weil sie sonst sicher umgefallen wäre. Die Euphorie durchströmte sie und mischte sich mit der Energie, verstärkte sich dadurch.
»Adeena?«, hörte sie Robert wie durch Watte.
Sie sah zu ihrem Kollegen und lachte immer weiter. Der Druck nahm weiter zu und dann explodierte er. Von einer Sekunde auf die andere fühlte Adeena sich leicht, wie eine Feder. Und dann war da nur noch Dunkelheit und das Gefühl, als würden ölige Schwärze in die Hohlräume fließen, in denen zuvor noch gleißende Energie gewesen war.
Adeena verlor das Bewusstsein.
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