Eine Romantic-Fantasy
Mit großen, schwungvollen Bewegungen führte Scarlett den Pinsel über die Leinwand, begleitet vom hellen Klirren ihrer vielen Armreifen. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, ihre Schultermuskeln brannten von der Anstrengung und doch konnte sie nicht aufhören. Gefangen von dem Azurblau und Sonnengelb, die sich in einem wilden Strudel über die zuvor weiße Fläche ausbreiteten, malte Scarlett wie in Trance.
Erneut tauchte sie den breiten Pinsel in den Farbeimer, fügte eine weitere Schicht Blau hinzu, ehe sie mit bloßen Fingern silberne Sprenkel hinzufügte. Wie Tropfen aus flüssigem Metall schimmerten diese im grellen Licht des Ateliers. Der Duft der Farben verstärkte sich.
Ring
Scarlett trat einige Meter zurück, besah sich das Bild und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. Der Stoff war schon ganz steif von der vielen Farbe, die sie dort bereits hinterlassen hatte. Vielleicht sollte sie … oh, ja! Mit großen Schritten ging Scarlett zu dem Regal neben dem Waschbecken, kramte in den dort gelagerten Sprühdosen und griff nach einer mit türkisfarbenem Deckel.
Ring, ring
Klackernd schüttelte Scarlett die Dose, trat wieder vor die Leinwand und sprühte die leuchtende Farbe auf mehrere Punkte. Fasziniert beobachtete sie, wie sich kleinere Spritzer um das Türkis verteilten und wie an einer Stelle die überschüssige Farbe nach unten lief.
Ring, ring, ring
»O ja!« Scarlett grinste und trat wieder von der Leinwand zurück. Das war genau die Art von Energie, von Bewegung und Lebendigkeit, die sie hatte einfangen wollen. In der Unperfektheit lag eine Schönheit, die ihr Herz anrührte und ein warmes Gefühl in ihrem Magen erzeugte.
Ring, ring, ring, ring!
Irritiert runzelte Scarlett die Stirn. Was in aller Welt machte denn hier so ein Geräusch? Sie sah sich in ihrem Atelier um und entdeckte ihr Handy, das wild blinkte und sich klingelnd und vibrierend immer weiter der Tischkante näherte. Sie nahm es auf und las den Eintrag auf dem Display: 15 Uhr, Termin mit Galerie Dunnham
Kälte sammelte sich in Scarletts Brust, denn es war bereits kurz vor zwei. Sie brauchte mindestens vierzig Minuten mit der Bahn in die Stadt und musste sich noch fertig machen.
»Verfluchte Scheiße!«
Scarlett ließ die Farbdose fallen, drehte sich um und rannte aus dem Atelier. Barfuß eilte sie über den mit Schnee bedeckten Trampelpfad durch den Garten zum Haus, riss die Tür auf und stürmte die Treppe nach oben. Dabei knarzte das Holz unter ihren Füßen so laut, als wollten die alten Balken endgültig nachgeben.
Noch bevor sie das Bad betreten hatte, schlüpfte sie aus dem Kleid und warf es auf den Boden. Darum konnte sie sich später kümmern. Jetzt musste sie sich duschen, die Farbe von ihrer Haut kratzen und sich in das Business-Outfit zwängen, das sie sich extra für diesen Termin gekauft hatte.
»Warum nur habe ich schon wieder den Wecker nicht gehört?!«, jammerte sie, während sie sich die Haare shampoonierte.
Fünf Minuten später zwängte sich Scarlett in einen schwarzen Hosenanzug, schlang ihr noch feuchtes Haar zu einem Knoten und befestigte ihn mit einer silbernen Spange. Beim Make-Up beschränkte sie sich auf Mascara und schwarzen Eyeliner. Selbst ohne Zeitdruck hätte sie nicht mehr zustande gebracht. War sie auf der Leinwand selbstsicher und mutig, konnte sie mit Lidschatten und Co. rein gar nichts anfangen. Ganz zu schweigen davon, dass kaum ein Concealer ihre Sommersprossen abdeckte.
Im Erdgeschoss schnappte sie sich ihre Handtasche, kramte ihre langweiligsten Schuhe aus dem Schrank hervor – schwarz, wie ihr Hosenanzug – schnappte sich ihren Mantel und stürmte aus dem Haus. Sie zerrte gerade ihr Fahrrad aus dem Schuppen, da hörte sie es hinter sich schnalzen.
»Na nu, Scarlett«, sagte ihr Nachbar von der Trockenmauer aus, die ihre beiden Grundstücke trennte. »Wie siehst du denn heute aus? Ohne deine bunten Kleider und mit den hochgesteckten Haaren hätte ich dich beinah nicht erkannt. Dachte schon, da bricht jemand bei dir ein.«
»Ich hab einen Termin in der Stadt«, keuchte Scarlett und schwang sich auf den Fahrradsattel. »Tut mir leid Mr. O’Bryne, aber ich muss mich beeilen!«
Sie hatte kaum den Mund geschlossen, da bog sie bereits auf die Hauptstraße ein und fuhr in Richtung Bahnhof. Zum ersten Mal war sie froh, dass sie nur ein uraltes, klappriges Fahrrad besaß, denn so konnte sie es ohne Angst vor Diebstahl einfach neben dem Bahnhofsgebäude stehen lassen. Für das Schloss wäre auch keine Zeit mehr gewesen, denn sie hatte kaum den Bahnsteig betreten, da fuhr der Zug nach Dublin schon ein.
Keuchend, mit dem Geschmack von Blut auf der Zunge und zittrigen Knien ließ sich Scarlett auf einen freien Sitz am Fenster fallen und knöpfte ihren Mantel auf. Es dauerte drei Stationen, bis sich ihre Atmung einigermaßen beruhigt hatte. Mit einer Mischung aus Erschöpfung und Erleichterung lehnte Scarlett den Kopf gegen die Nackenstützte.
Gott sei Dank habe ich es noch rechtzeitig geschafft, dachte sie und atmete tief ein und aus. Nicht auszudenken, wenn sie den Termin bei Ms. Dunnham verpasst hätte, nur weil sie wieder einmal in ihre eigene Welt abgetaucht war. Sie hatte zu lange auf eine solche Chance gewartet, zu viel dafür geopfert, nur um sich dann selbst Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Zwanzig Minuten Bahnfahrt und einige Gehminuten durch den diesigen Januarnachmittag später, betrat Scarlett die Galerie in der Dubliner Innenstadt. Ein hoher Raum, dessen Fenster mit dünnen, weißen Stoffbahnen abgedeckt waren. Statt Sonnenlicht erhellten mehrere Spots den Raum. Jedes Leuchtmittel war so ausgerichtet, dass es perfekt die Skulpturen oder die Gemälde beleuchtete, die an dünnen Drahtseilen von der Decke hingen. Der Geruch von Vanille lag in der Luft und der weiße Boden war so blankpoliert, dass Scarlett sich darin spiegelte.
Nur mit Mühe drängte Scarlett die Panik zurück, die sie bei diesem Tempel der Kunst überkam. Ihre Augen huschten durch die Galerie und blieben an einem Mann hinter einem Empfangstresen hängen. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd. Seine Krawatte und sogar die Brille hatten exakt denselben Farbton wie der Anzug. Scarlett würde auf Delftblau tippen.
Auf dem silbernen Namensschild stand Claude Miller. Er war der persönliche Assistent von Ms. Dunnham, das wusste Scarlett von ihren Recherchen.
Den Kopf erhoben, die Schultern nach hinten gedrückt, ging Scarlett direkt auf ihn zu und räusperte sich. »Guten Tag, ich habe einen Termin um 15 Uhr.«
Mr. Miller hob den Kopf und musterte Scarlett von oben bis unten – als wäre sie ein Apfel, den er auf schimmlige Stellen untersuchte. Scarletts Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Und Ihr Name lautet?«
»Devoe«, sagte Scarlett schnell und zwang sich zu einem Lächeln. »Mein Name ist Scarlett Devoe. Ms. Dunnham erwartet mich.«
»Hm«, machte Mr. Miller, tippte auf seinem Tablet und nickte langsam. »Tatsächlich, da stehen Sie. Es geht um einen Platz im Herbstprogramm.«
»So ist es«, antwortete Scarlett möglichst professionell. Sie würde sicher nicht kreischen und im Kreis hüpfen, so wie sie es bei der Einladungs-Mail von Ms. Dunnham vor einer Woche getan hatte.
»Na schön. Welche Stilrichtung?«
Scarlett runzelte die Stirn. Warum wollte er das wissen? Diese Informationen lagen der Galerie alle vor. Dennoch antwortete sie freundlich: »Abstrakter Expressionismus.«
»Und wo waren Ihre Bilder bisher zu sehen?«
Scarlett leckte sich über die Lippen. »Nun, ich hatte letzten Winter eine kleine Ausstellung im Rathaus von Shankhill Castle.«
Mr. Miller hob eine Augenbraue, sah dann wieder auf sein Tablet. »Also noch nirgends.«
Arroganter Sack, dachte Scarlett. Sie brauchte Mr. Miller nicht, um zu wissen, wie wenig erfolgreich sie bisher mit ihren Bildern gewesen war. Obwohl es in ihr brodelte, behielt sie ihr freundliches Lächeln bei. Sie würde diesem Schnösel sogar die Füße küssen, wenn er sie endlich zu seiner Chefin brachte. Denn Petunia Dunnham hielt den Schlüssel zu Scarletts Herzenswunsch in Händen: Eine eigene Vernissage in einer großen Galerie
»Na schön«, unterbrach Mr. Miller Scarletts Gedanken und erhob sich von seinem Stuhl. »Folgen Sie mir, Ms. Dunnham sitzt in ihrem Büro.«
Scarlett nickte und folgte Mr. Miller durch die Galerie bis zu einer Milchglastür, die er nach kurzem Klopfen öffnete.
»Ms. Dunnham, Ihr Drei-Uhr-Termin ist hier.« Mr. Miller trat zur Seite, so dass Scarlett das Büro und vor allem dessen Besitzerin sehen konnte. Boden und Wände waren wie in der Galerie reinweiß und der Raum wurde von einem Schreibtisch aus dunklem Mahagoniholz dominiert. Dahinter saß Petunia Dunnham, das blonde Haar zu einem Dutt im Nacken geschlungen und gekleidet in maisgelbe Seide.
»Ms. Devoe.« Die ältere Frau erhob sich und kam auf Scarlett zu, um ihr die Hand zu reichen. »Schön, dass Sie es einrichten konnten.«
»Es ist mir eine Ehre«, beeilte sich Scarlett zu sagen. Ohne ihre Silberarmreifen fühlte sich ihre Hand so leicht an, mit der sie die von Ms. Dunnham ergriff. »Vielen Dank für diese Chance, Ms. Dunnham.«
Die Galeristin nickte, wandte sich an ihren Assistenten und nahm dessen Tablet entgegen. Mr. Miller verließ daraufhin das Büro und Ms. Dunnham deutete auf eine Sitzgruppe aus braunem Leder und Chrom. »Bitte, setzen Sie sich.«
»Danke.«
Erleichtert, ihren weichen Knien eine Auszeit zu gönnen, ließ Scarlett sich gegenüber von Ms. Dunnham nieder. Sie ballte unauffällig die Hände im Schoß zu Fäusten, um nicht an ihrem Haar zu zupfen. Im Vergleich zu der Frau gegenüber fühlte sich Scarlett, als hätte sie ein Vogelnest auf ihrem Kopf.
»Ihre Bewerbung war … recht ungewöhnlich«, setzte Ms. Dunnham an. Dabei wischte sie über das Tablet, wahrscheinlich durch Scarletts Bewerbungsmappe. »Aber Ihre Arbeiten haben mein Interesse geweckt. Sie strahlen eine Energie und Rohheit aus, die einem Teil meiner Kundschaft sicher gefallen wird.«
Rohheit?, echote es in Scarletts Kopf. Hielt Ms. Dunnham ihre Bilder also für unausgereift? Zu ungeschliffen?
Doch bevor sie wusste, wie sie diese Frage formulieren sollte, legte Ms. Dunnham das Tablet beiseite und schlug ein Bein über das andere.
»Erzählen Sie mir von sich«, bat sie. »Es ist immer hilfreich, wenn ich die Künstlerinnen und Künstler etwas besser kennenlerne, die ich gedenke auszustellen.«
»Was würden Sie denn gerne wissen?«
»Wo Sie herkommen und ob Sie einen Partner haben.«
»Einen Partner?«
»Oder Partnerin«, erwiderte Ms. Dunnham und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Kunstszene ist offen für alles, wie Sie sicher wissen.«
»Nun … es gibt weder das eine noch das andere momentan in meinem Leben.« Scarlett zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Sie würde dieser Frau sicher nicht mit ihren unzähligen gescheiterten Beziehungsversuchen in den Ohren liegen und dass sie sich mit ihrem Singledasein abgefunden hatte.
Scarlett schluckte trocken und fuhr fort: »Ich bin geboren und aufgewachsen in Shankhill Castle. Dort lebe ich noch immer in einem Cottage mit eigenem Atelier.«
Was Scarlett verschwieg, war die Tatsache, dass es sich um das Cottage ihrer verstorbenen Eltern handelte und sie es bald verkaufen musste, wenn sie nicht endlich Erfolg mit ihren Bildern hatte. Nein, sie wollte in den Augen von Ms. Dunnham nicht noch bedürftiger erscheinen, als sie tatsächlich war.
Zum Glück schien Ms. Dunnham davon nichts zu ahnen, sondern nickte. »Ah, eine waschechte irische Künstlerin also. Das ist immer ein Pluspunkt.«
Scarlett nickte, ihr schwirrte der Kopf. Sie hatte immer gedacht, als Landei im Nachteil zu sein und dass weitgereiste und weltgewandte Künstler beliebter waren.
»Wunderbar.« Ms. Dunnham lehnte sich ein Stück nach vorn. »Ich habe noch einen freien Platz im Herbstprogramm. Sie könnten zehn oder fünfzehn Bilder hier ausstellen, das würde auf die Größe ankommen. Es ist immer gut, verschiedene Formate anzubieten. Wäre das für Sie in Ordnung?«
»Aber natürlich«, platzte es aus Scarlett heraus. Sie atmete mittlerweile flach und glaubte, jeden Moment vom Stuhl kippen zu müssen. Was Ms. Dunnham ihr da gerade anbot, war ein Ticket ins Paradies!
Die Galeristin erhob sich und Scarlett tat es ihr gleich. »Sehr schön. Holen Sie bei Claude den Vertrag ab. Lesen Sie ihn aufmerksam durch und wenn Sie einverstanden sind, dann schicken Sie ihn mir unterzeichnet zurück. Im September setze ich mich mit Ihnen in Verbindung, damit wir eine Auswahl aus Ihrem Portfolio für die Vernissage treffen können.«
»Danke, Ms. Dunnham«, sagte Scarlett rau. Sie blinzelte die Tränen fort und ergriff die Hand der Älteren. »Vielen Dank für diese Chance, ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Das freut mich zu hören.« Ms. Dunnham begleitete sie zur Tür und schloss diese, nachdem Scarlett hindurchgegangen war. Wie in Trance ging Scarlett zurück zum Empfangstresen, nahm von dem nach wie vor säuerlich dreinschauenden Mr. Miller einen Umschlag entgegen und verabschiedete sich.
Erst, als sie raus an die kühle Luft trat, drang das eben Geschehene zu ihr durch. Scarlett schaffte es, sich bis zur Bahnstation zusammenzureißen. Bis dorthin hielt sie die professionelle Fassade aufrecht, doch kaum stand sie am Gleis still, kramte sie ihr Handy heraus und öffnete den Chat mit ihrer besten Freundin.
»Meena, du hattest recht!«, jauchzte Scarlett. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie es kaum schaffte, die Taste zur Aufnahme der Sprachnachricht gedrückt zu halten. »Ich komme gerade vom Termin in der Galerie und sie nehmen mich! Mich! O mein Gott … Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.«
Scarlett lachte leise vor sich hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Fahrkartenautomaten. Ihre Knie waren weich und jetzt, da das Adrenalin nachließ, wurde ihr ein wenig schwummerig. Aber das war egal. Sie schluckte und erzählte ihrer Freundin in allen Einzelheiten von den vergangenen Stunden: Von ihrer Beinah-Verspätung, dem arroganten Mr. Miller und dem anschließenden Gespräch mit Ms. Dunnham.
»Und sie gibt mir tatsächlich einen Platz im Herbstprogramm. Ich kann es noch immer nicht glauben … Danke, danke, danke, dass du so hartnäckig auf mich eingeredet hast, mich dort zu bewerben. Andernfalls …« Scarlett verstummte, schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich hätte mich wahrscheinlich wieder nicht getraut. Heute Abend mache ich den Roséwein auf, den du mir zu Weihnachten geschenkt hast. Aus Frankreich war der, oder?«
Scarlett kaute kurz auf ihrer Unterlippe und zuckte dann mit den Schultern. »Egal – er wird sicher hervorragend schmecken. Natürlich würde ich lieber zusammen mit dir anstoßen, aber das holen wir einfach nach, wenn du wieder zuhause bist. Bitte ruf mich an, sobald du gelandet bist. Hab dich lieb.«
Sie schloss den Chat und steckte das Handy zurück in ihre Tasche. Die ganze Zeit, bis der Zug kam, grinste sie vor sich hin und es war ihr egal, wenn einige der Passanten sie mit seltsamem Blick ansahen. Endlich ging ihr Lebenstraum in Erfüllung, da war ihr die Meinung dieser Fremden herzlich egal.
Petunia Dunnham mochte ihre Arbeiten!
Beschwingt stieg Scarlett in den Zug, setzte sich in einen leeren Viererblock und löste die Spange aus ihrem Haar. Mittlerweile war es getrocknet und lockte sich noch mehr als sonst. In der Spiegelung der Fensterscheibe zupfte Scarlett die roten Strähnen zurecht.
Das bin schon eher ich, dachte sie und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. Zuhause würde sie diesen grässlichen Hosenanzug zurück in den Schrank verbannen, wieder in eines ihrer Kleider schlüpfen und ihre Armreifen anlegen. Anschließend würde sie – mit einem oder zwei Gläsern Wein – die Bilder für die Ausstellung planen. Bis zur Vernissage im Oktober waren es noch neuneinhalb Monate. Zeit genug, aber gleichzeitig fühlte Scarlett schon jetzt den Druck.
Die gesamte Heimfahrt über grübelte sie über Konzepte und dachte darüber nach, wie sie die Anforderungen von Ms. Dunnham am besten umsetzen konnte. Vielleicht würde sie auch einige ihrer bereits fertigen Werke verwenden können? Sie musste unbedingt alle katalogisieren.
Um ein Haar hätte sie die Station Shankhill Castle verpasst, sprang gerade noch rechtzeitig auf und eilte durch die Tür. Leise lachte sie vor sich hin. Das wäre so typisch für sie gewesen, ihre Haltestelle zu verpassen und bis nach Südirland hinunter zu fahren.
Egal, dachte sie und ging zu ihrem Fahrrad. Die Straßenlampen brannten mittlerweile und leichter Schneefall hatte eingesetzt. Dieses Mal in gemächlichem Tempo fuhr Scarlett die Strecke vom Bahnhof zu ihrem Cottage, weiterhin tief in Gedanken versunken.
Motorheulen und Bremsenquietschen rissen Scarlett zwei Kreuzungen vor ihrem Ziel zurück ins Hier und Jetzt. Sie sah sich um und erkannte zwei grelle Lichtpunkte, die sich ihr mit großer Geschwindigkeit näherten. Vor Schreck riss sie den Lenker zu stark nach rechts, verlor das Gleichgewicht und kippte samt ihrem Fahrrad um. Hart schlug sie auf dem nassen Asphalt auf und Schmerz schoss durch ihre linke Schulter und ihre Hüfte.
Benebelt hob Scarlett den Kopf, sah sich nach dem Auto um …
… und wurde einen Herzschlag später von selbigem erfasst.
Metall kreischte, Knochen brachen und Scarlett wurde unter dem Ungetüm aus Stahl begraben. Heiße Flüssigkeit tropfte auf ihren Brustkorb, während ihr rechter Arm unter einem Reifen und ihr restlicher Körper unter dem Motorblock begraben lag.
Zuerst waren da keine Schmerzen, doch dann schien ihr Körper regelrecht in Flammen aufzugehen. Scarlett schrie auf und schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen. Ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb, ihr linker Arm war regelrecht zerfetzt und sie spürte, wie sie aus mehreren Wunden blutete.
»Nein«, krächzte sie und begann zu hyperventilieren. »Nein, ich will nicht sterben!«
Wie aus weiter Ferne hörte sie eine Stimme, dumpf und undeutlich. Blut erfüllte ihren Mund, rann in ihre Luftröhre und sie hustete. Noch immer standen ihre Nervenbahnen in Flammen, doch gleichzeitig breitete sich in ihrem Kopf eine wattige Leichtigkeit aus. Aber nein, das durfte nicht sein!
»Ich will nicht sterben«, wimmerte Scarlett, heiße Tränen liefen über ihr Gesicht. »Jetzt noch nicht … ich würde alles … alles tun … um …«
»Um weiterleben zu können?«
Plötzlich war die Stimme ganz klar, als wäre sie direkt in Scarletts Kopf. Durch den Gestank von Motoröl, Benzin und Blut wehte ein Hauch Jasmin zu ihr. Wo kam der her? Roch so der Tod? Müsste er nicht eher nach Graberde und Fäulnis stinken?
»Hey, antworte mir«, forderte die Stimme. Es war ein Mann, das Timbre seiner Worte weich wie Pelz. »Wirst du alles tun, um weiterleben zu können?«
Mit letzter Kraft öffnete Scarlett die Lider, sah sich um … doch alles, was sie erkannte, war ein verschwommenes Gesicht mit einem Paar smaragdgrüner Augen. Diese Augen schienen von innen heraus zu glühen und selbst, wenn Scarlett noch die Kraft gehabt hätte, sie hätte den Blickkontakt nicht lösen können.
»Wünschst du dir zu leben – ja oder nein?«, bohrte der Mann nach.
Scarlett hustete, spuckte Blut aus und mit ihrem letzten Atemzug antwortete sie: »Ja.«
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