Der sechste und finale Band der Romantic-Fantasy-Reihe "Ouija"
Seth musste die Stadt verlassen.
Zu lange hatte er es hinausgezögert, aufgehalten von närrischen Hoffnungen und einer Sentimentalität, die jemand wie er sich nicht leisten konnte.
Außerdem hatte er Kaliska das Versprechen gegeben, sie künftig in Ruhe zu lassen. Das konnte er nicht einlösen, wenn er weiterhin in San Francisco blieb und damit sich selbst ständig in Versuchung führte, sie doch wieder zu besuchen.
Ganz zu schweigen davon, dass Rupert Hathaway sicher bald aus der Dimension herauskommen würde, in die Seth ihn geschickt hatte. Dann wäre seine wahre Identität nicht länger geheim und er würde darauf wetten, dass Kaliska innerhalb weniger Stunden auf seiner Türschwelle stand.
Der Gedanke war verlockend, doch Seth schob ihn mit aller Macht beiseite.
Obwohl es mitten in der Nacht war, ging er durch sein Appartement und packte. Er wusste, wenn er sich jetzt nicht aus dem Staub machte, dann würde ihn entweder seine Sehnsucht nach der Nekromantin übermannen oder Heath würde doch noch sein Versprechen brechen. Letzteres bescherte Seth einen sauren Geschmack auf der Zunge. Sein Boss wurde immer verzweifelter, was ihn gefährlicher machte. Obwohl Seth offiziell nicht mehr an den Geschäften beteiligt war, hörte er doch hin und wieder etwas von Heaths Aktionen. Zum Beispiel, dass das pulverisierte Lagerhaus vor zwei Tagen ein weiterer, gescheiterter Versuch gewesen war, den Dämon zu beschwören. Wenn er so weitermachte, verwandelte Heath die ganze Stadt in einen Trümmerhaufen. Wahrscheinlich wäre ihm das sogar egal, solange er nur sein Ziel erreichte.
Seth war noch nie gläubig gewesen, doch er betete zu allen irdischen und kosmischen Mächten, dass es Heath nicht gelingen würde, sein Vorhaben umzusetzen. Nicht nur, weil er es dem Bastard nicht gönnte, sondern auch, weil jedes weitere Höllenwesen die Welt näher an die Apokalypse bringen würde.
»Und doch kann ich nichts dagegen tun«, zischte Seth frustriert. Mit mehr Kraft als nötig zog er den Reißverschluss seines Koffers zu. So oft er schon mit seinem Schicksal gehadert hatte, in den letzten Monaten war es besonders schlimm. Seit dem Tag, als Heath nach San Francisco zurückgekehrt war und ihm ständig im Nacken saß. Das würde erst ein Ende haben, wenn die Sternenkonstellation sich wieder verschob und einen Übertritt aus der Hölle damit verhinderte. Vielleicht, nur vielleicht, könnte Seth dann wieder zurückkommen und auch die Frau wiedersehen, deren dunkle Seele so verführerisch zu seiner sang.
Aber erst einmal musste er Abstand zwischen sich und diese Stadt bringen – je größer, desto besser.
Gerade schlüpfte Seth in seinen Mantel und wollte die Alarmanlage aktivieren, da vibrierte sein Smartphone und spielte einen speziellen Nachrichten-Ton ab. Einer, der ihm sofort alle Haare zu Berge stehen ließ. Er zog das Gerät heraus und öffnete die Chat-App.
Die Nachricht war von Gloria Sanford. Sie kümmerte sich um die paranormalen Talente, die Heath anheuerte. Seth hatte in der Vergangenheit nur hin und wieder mit ihr zusammengearbeitet, doch nachdem ihr gemeinsamer Boss zurückgekommen war, hatten sie sich regelmäßig ausgetauscht. Sie war es auch, die ihm die letzten beiden Kontakte zu Personen vermittelt hatte, die die Dämonenbeschwörung versucht hatten – obwohl sie Seths Bedenken wegen dieses Rituals teilte.
»Falls du noch nicht aus der Stadt verschwunden bist, mach das jetzt. Der Boss hat ein Artefakt gefunden, mit dem es funktionieren wird. In zehn Tagen bei Neumond.«
»Fuck!«, zischte Seth und tippte eine Antwort. »Bist du dir sicher?«
»Ja.«
Das Wort auf dem Display presste Seths Herz mit scharfen Klauen zusammen. Wenn die erfahrene Hexe so etwas sagte, hatte das Gewicht.
Langsam steckte Seth sein Smartphone zurück in die Manteltasche, starrte blind vor sich hin. Er wusste genau, was er tun sollte: Die Stadt, nein, noch besser, den Kontinent verlassen und hoffen, dass sich Gloria doch getäuscht hatte. Das wäre die logische Wahl. Eine, die zu seinem Vorteil wäre und mit der er seine eigene Sicherheit garantieren würde. Gleichzeitig sträubte sich alles in ihm dagegen.
Seth fluchte. Warum nur konnte er nicht einfach das kaltherzige Arschloch sein, für das ihn alle hielten?
Es dauerte über eineinhalb Stunden, zwei Taxi-Wechsel und mehrere komplexe Schutzzauber, ehe Seth sein Ziel erreichte. Die Dämmerung war nicht mehr fern, als er schließlich einige Häuser vor seinem Ziel aus dem gelben Fahrzeug stieg. Er wartete, bis der Wagen verschwunden war, ehe er den Hügel hinaufging.
So oft war er diesen Weg schon gegangen, doch niemals in seinem eigenen Körper. War das der Grund, weswegen es sich so anfühlte, als würden Bleigewichte an seinen Beinen hängen? Oder war es die schiere Absurdität dieser Situation? Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, dass er sich noch vor wenigen Stunden geschworen hatte, Kaliska hinter sich zu lassen und jetzt … Jetzt gehe ich ausgerechnet zu ihr, dachte Seth und schüttelte den Kopf.
Wenige Augenblicke später stand er vor dem Gartentor des Grundstücks, dessen Energien schon immer auf seiner Haut geprickelt hatten – egal, in welcher Gestalt er es betreten hatte. Die Magie lockte ihn, genauso wie die Herrin des Hauses. Dunkel erhob es sich in den Nachthimmel, der sich langsam, aber sicher in hellere Farben kleidete.
Zögerlich streckte Seth die Hand nach dem Tor aus und schritt hindurch. Jeder Meter fühlte sich dabei an, als würde er durch flüssigen Beton waten. Gleichzeitig rasten seine Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit. Was, wenn Kaliska ihn nicht anhörte? Wenn sie ihn fortjagte, wozu sie jedes Recht hätte?
Aber noch bevor er eine Antwort darauf wusste oder die Veranda erreichte, durchschnitt ein Räuspern die Stille. Sofort blieb Seth stehen und aktivierte seine Magie – nur um festzustellen, dass genau die Frau neben einem Holunderbusch stand, wegen der er hergekommen war.
»John«, wisperte Kaliska Roux und trat aus den Schatten. Sie trug einen weiten Pullover und Jeans, ihr langes Haar lag als geflochtener Zopf auf ihrer Brust.
Erfüllt von unbeschreiblicher Erleichterung, sackten Seths Schultern herunter und er zog seine Magie zurück in seine Seele. »Guten Morgen, Kaliska.«
»Verdammte Scheiße«, fluchte sie und machte einen energischen Schritt auf ihn zu, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Ihre Augen musterten ihn intensiv und weiteten sich.
Es war nicht schwer für Seth zu erraten, was in ihrem Kopf vor sich ging – immerhin hatte sie bereits zuvor die Vermutung geäußert, dass dieser Körper sein echter war. Die närrische Frage, ob ihr gefiel, was sie sah, verkniff sich Seth. Jetzt war nicht der richtige Moment, um sich über solche Dinge zu unterhalten. Vielleicht würde dieser nie kommen.
»Was … was willst du hier?«, brach Kaliska schließlich das Schweigen. Ihre Stimme so dünn, wie Seth sie noch nie gehört hatte.
Er versuchte sich an einem Lächeln. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Ach ja?« Kaliska verschränkte die Arme vor der Brust und hob skeptisch eine Augenbraue. Obwohl es dunkel war, sah Seth Feuer in ihrem Blick auflodern. »Und warum auf einmal? Monatelang habe ich dich angefleht, mir zu sagen, wer du bist und warum du immer wieder in anderer Gestalt hier auftauchst. Und jetzt hast du ernsthaft den Nerv, mich um Hilfe zu bitten? Vor allem nach dem, was du bei deinem letzten Besuch abgezogen hast?«
»Ändert sich etwas, wenn ich dir sage, dass ich weiß, dass ich es verbockt habe?«, fragte Seth mit einem schiefen Grinsen.
»Nein, tut es nicht!«, zischte die Nekromantin. »Ich habe keine Zeit mehr für deinen Bullshit. Glaubst du, es macht alles ungeschehen, nur weil du jetzt in deinem richtigen Körper vor mir stehst? Ich kenne immer noch nicht einmal deinen Namen!«
»Seth«, sagte er und schluckte trocken. »Ich heiße Seth Lanchester.«
»Ist mir egal, verzieh dich!«
Obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie sich stritten oder Kaliska ihn fortjagte, rammten sich diese Worte wie ein glühender Dolch in Seths Brust. Warum nur war er ein so kranker Bastard? Wütend auf sich und auf sein Schicksal, presste er hervor: »Das kann ich nicht. Ich weiß, dass du keinerlei Grund hast, mir zu vertrauen oder mir zu helfen. Ich bin selbst schuld daran und kann meine vorigen Taten nicht mehr ungeschehen machen. Das weiß ich alles. Und trotzdem …« Er ließ den Satz unbeendet, strich sich durch die Haare und ballte anschließend die Hände zu Fäusten. Es fiel ihm unendlich schwer, Kaliska nicht zu berühren. Wahrscheinlich würde sie das nur noch wütender machen. Zu Recht. Nein, er musste ihr begreiflich machen, dass sie ihm zuhören musste. »Kaliska.« Seth legte so viel Ehrlichkeit in seine Stimme, wie er aufbringen konnte. »Ich brauche deine Hilfe, bitte. Ich schwöre, ich werde dir alles erzählen. Keine Ausflüchte mehr, kein Versteckspiel. Nur … bitte hör mir zu.«
Ihre Miene wurde noch skeptischer. »Warum jetzt? Was ist jetzt anders als letzte Woche oder letzten Monat?«
»Mein …« Seth atmete tief durch und presste hervor: »Mein Meister ist in den Besitz eines besonderen Artefakts gekommen, mit dem er die Welt in den Abgrund stürzen wird, es sei denn, wir halten ihn auf.«
Mehrere endlose Herzschläge starrte die Nekromantin ihn nur an. Jede Sekunde war für ihn pure Folter, denn was sollte er tun, wenn sie ihn wieder wegschickte? Wenn sie entschied, dass er sie zu oft belogen und hinters Licht geführt hatte?
»Komm rein«, forderte Kaliska unvermittelt, drehte sich um und strebte zum Haus.
Schwindelig vor Erleichterung musste Seth sich einige Sekunden sammeln, ehe er der Nekromantin folgte. Noch nie in einem Leben war er so froh gewesen, ein Gebäude betreten zu dürfen. Es lag noch ein langer Weg vor ihm, bis Kaliska ihm traute, doch den ersten Schritt hatte er gemeistert.
Allerdings stellte sich schon wenige Augenblicke später heraus, dass er sich zu früh gefreut hatte. Kaliska stand in der Tür und hielt sie ihm auf, ihr Blick erwartungsvoll und noch immer misstrauisch auf ihn gerichtet, als Seth versuchte, über die Schwelle zu treten.
Mit Betonung auf versuchte.
Ein überraschend starkes Kraftfeld hinderte ihn daran, durch die offene Tür zu gehen. Es zwickte und stach auf seiner Haut und fühlte sich so an, als würde er mit Schürfwunden übersäht durch ein Essigbad gehen. Gleichzeitig erfüllte ein Grollen das Haus wie Donnerhall.
»Es scheint, als wären deine Schutzzauber sehr empfindlich.« Seth trat einen Schritt zurück auf die Veranda. Sofort ließ das Missempfinden nach.
Kaliska zog ihre Brauen zusammen. »Ich verstehe das nicht. Du warst doch schon in meiner Küche.«
»Nun … ich nicht.« Die Erkenntnis, dass sein eigener Körper von Kaliskas Haus abgewehrt wurde, brannte schlimmer als die Schutzzauber. Auch wenn er schon eine Ahnung hatte, was der Grund dafür war. Seth fürchtete schon, dass Kaliska ihn nun doch fortschicken würde, doch das geschah nicht.
Stattdessen seufzte sie tief und schnippte mit den Fingern. »Du bist dir hoffentlich bewusst, dass ich dich mit den schlimmsten Flüchen belege, wenn in meinem Haus du auch nur falsch atmest.«
»Aber natürlich.« Lächelnd, weil er ihre kompromisslose Art schon immer bewundert hatte, betrat Seth nun das Haus. Abermals grummelten die Wände und der Boden, doch schließlich beugte sich das Gebäude dem Willen seiner Herrin.
»Komm«, forderte Kaliska und ging den Flur entlang zur Küche.
Das erste Morgenlicht drang diffus durch das große Buntglasfenster an der Sitzecke, doch die Hauptlichtquelle des Raums war die Deckenleuchte. Wie auch bei seinem letzten Besuch – jedoch in anderem Körper – roch es nach Kräutern, Kaffee und Magie. Eine Kombination, die sich wie eine warme Decke auf Seths Schultern legte. Obwohl er den schwersten Teil des Gesprächs noch vor sich hatte, entspannte er sich ein wenig.
Kaliska deutete zum Tisch. »Setz dich und fang an, von der Apokalypse zu erzählen, die es zu verhindern gilt.«
»Bekomme ich keinen Kaffee angeboten?«, fragte Seth mit einem kleinen Lächeln.
»Kaffee muss man sich in meinem Haus verdienen«, erwiderte sie kalt. Sie wartete, bis er sich auf der Bank niedergelassen hatte, ehe sie sich auf einen der Stühle auf der anderen Tischseite setzte. Der Blick ihrer dunkelgrünen Augen bohrte sich wie Sezierbesteck in ihn.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr, dachte Seth und wappnete sich innerlich.
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