Der erste Band der Dark-Academia & Romantic-Fantasy-Reihe "Cadill Professors"
»O mein Gott, das ist wunderschön!«
Warmer Stolz breitete sich in Liannes Brust aus, während ihre Kundin um das Beistelltischchen herumging. Beinah ehrfürchtig strich Giselle mit den Fingerspitzen über das glänzende Eichenholz und die aus Rosenquarz gefertigten Intarsien. Es waren Kirschblüten an einem filigran gebogenen Zweig – genauso, wie Giselle es sich gewünscht hatte.
»Lianne … ich bin sprachlos. Du bist eine echte Meisterin!« Giselle ergriff Liannes Hände, in ihren Augen schimmerten Tränen. »Vielen, vielen Dank! Der Tisch ist sogar noch viel schöner geworden, als ich es mir vorgestellt hatte.«
»Freut mich, dass dir der Tisch gefällt.«
»Mehr als das, ich liebe ihn! Kann ich ihn gleich mitnehmen?«
»Natürlich. Ich packe ihn dir nur schnell ein, damit er beim Transport keine Kratzer bekommt.« Lianne ging nach hinten in ihre Werkstatt, um Verpackungsmaterial zu holen. Sofort wurde der Geruch nach Holz, Leim und Möbelpolitur intensiver. Staub tanzte in den Strahlen der Mittagssonne, die durch das Oberlicht hereinfielen.
Aus einem Schrank im hinteren Teil holte Lianne Seidenpapier, Polsterfolie und Klebeband und ging zu Giselle zurück. Diese betrachtete noch immer mit verliebtem Blick das Beistelltischchen.
»Dauert nicht lange«, versprach Lianne, ging in die Hocke und packte das Möbelstück ein. Vorsichtig wickelte sie das Seidenpapier darum, um die Oberfläche zu schützen.
»Sag mal, hast du Magie benutzt, um das Tischchen zu bauen?«, fragte Giselle unvermittelt.
Ein Schraubstock schloss sich um Liannes Herz und sie hatte Mühe, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.
»Ähm, ja«, antwortete sie. Es hatte keinen Sinn, abzustreiten, dass sie Magie wirken konnte. Eine Lüge war dann am effektivsten, wenn sie mit der Wahrheit verwoben war. Lianne räusperte sich. »Ich habe die Magiebegabung zur Molekularmanipulation, das macht mir die Arbeit leichter.«
»Wow, das ist beeindruckend.« Giselle seufzte tief. Lianne erahnte bereits Giselles nächsten Worte. Wie ein Zug mit voller Geschwindigkeit rasten sie auf Lianne zu, und sie war doch nicht in der Lage, rechtzeitig von den Gleisen zu springen.
»Ich wäre damals an meinem sechzehnten Geburtstag auch gerne als Magiebegabte manifestiert. Mein bester Freund damals kam an die Cadill. Er konnte die Zeit manipulieren. Fandest du nicht auch, dass es echt seltsam ist, dass sich schon jetzt wieder die mächtigen Gabenträger manifestieren? Dabei ist die vorige Generation doch gerade mal Anfang dreißig.«
»M-hm.« Liannes Finger waren plötzlich schweißnass und sie hatte Mühe, die Luftpolsterfolie ordentlich abzuwickeln.
»Ach, ich stelle mir das ja so aufregend vor!« Giselle seufzte verträumt. »Den Trägern der Gaben sollen wohl kaum Grenzen gesetzt sein, nicht so wie den Magiebegabten.«
»Habe ich auch gehört«, presste Lianne hervor. Mittlerweile war ihr speiübel. Nachlässiger als sonst befestigte sie die Luftpolsterfolie mit Klebeband, stand auf und flüchtete hinter den schmalen Verkaufstresen.
»Zahlst du bar oder mit Karte?«
»Mit Karte.« Giselle kramte ihren Geldbeutel aus der großen Tasche.
Um zu verhindern, dass Giselle weiter über die Gabenträger sprach, ratterte Lianne ihren üblichen Text zur Möbelpflege herunter, während sie die Abrechnung fertig machte. Zusammen mit dem Beleg gab Lianne die Karte zurück.
»Ich werde das Schmuckstück hüten wie meinen Augapfel«, versprach Giselle. »Ach, ich kann es kaum erwarten, damit beim nächsten Buchclub-Treffen vor den anderen anzugeben. Also wunder dich nicht, wenn dir die Leute bald den Laden einrennen.«
»Ich zähl darauf«, erwiderte Lianne und zwang sich zu einem Lächeln. Giselle war sehr nett und hatte sich als eine der ersten Ladenbesitzerinnen des Viertels mit Lianne unterhalten. Sie meinte es nur gut und seit einigen Monaten waren die neuen Gabenträger das Gesprächsthema Nummer eins – wie immer, wenn wieder jemand Neues hinzukam.
»Komm, ich helfe dir beim Tragen«, sagte Lianne. Gemeinsam bugsierten sie das Tischchen aus dem Laden und in den Kofferraum von Giselles SUV.
»Danke, meine Liebe«, sagte Giselle. »Komm doch die Tage auf einen Kaffee zu mir in den Salon, dann plaudern wir noch ein bisschen. Ja?«
»Klar, gerne.«
Giselle nickte ihr zu, dann stieg sie ein und fuhr davon, während Lianne zurück in ihren Laden ging. Dort schleppte sie sich müde durch die Werkstatt nach hinten in ihr winziges Büro, wo sie sich auf den Schreibtischstuhl fallen ließ. Den Kopf in die Hände gestützt, atmete sie tief ein und aus. Noch immer war ihr übel und in ihren Ohren rauschte es unangenehm.
Alte, längst verschüttete Erinnerungen erhoben sich wie Zombies aus ihren Gräbern. Es kostete Lianne immense Anstrengung, diese Gedanken zurückzudrängen. Und als wäre das nicht schlimm genug, kreiste über allem eine schmerzhafte Frage: Warum manifestierte sich jetzt schon die neue Generation Gabenträger?
Das letzte Mal war doch erst sechzehn Jahre her. Der vorige Zyklus war fast dreimal so lang gewesen und die Abstände davor hatten ebenfalls mindestens drei Jahrzehnte umfasst. Lianne hatte fest damit gerechnet, dass die neue Generation in frühestens dreißig Jahren in Erscheinung treten würde.
Hatte das Schicksal noch nicht genug davon, ihr das Leben zu Hölle zu machen?
Seit ein paar Jahren lief es für sie richtig gut! Sie hatte sich den Traum einer eigenen Schreinerei erfüllt und dabei sogar geheim gehalten, dass sie eine der Gabenträgerinnen war. Ja, ihre Finanzen waren angespannt und ihr Liebesleben quasi nicht existent, aber das war nicht so schlimm. Es war immer noch ihr Leben, das sie sich selbst aus den Trümmern ihrer Jugend errichtet hatte.
Wie lange mochte es wohl dauern, bis die Leute der Cadill Academy sie aufspürten? Jetzt, da die neuen Gabenträger einer nach dem anderen auf der Bildfläche erschienen?
Abermals rebellierte Liannes Magen. Sie presste sich eine Hand auf den Mund und umklammerte mit der anderen die Stuhllehne. Unter ihren Fingern wurde das harte Plastik krümelig und verfärbte sich goldbraun.
Verdammt, dachte Lianne und schloss die Augen.
Jedes Mal, wenn sie emotional besonders aufgewühlt war, verwandelte sie irgendetwas in ihrer Umgebung zu Sand. Zum Glück hatte sie mit der Zeit gelernt, den Vorgang rückgängig zu machen, auch wenn der Prozess sich anfühlte, als würde sie durch nassen Beton waten.
Schließlich hatte es niemanden mehr gegeben, der dieselbe Gabe hatte wie sie, und ihr hätte zeigen können, wie man es richtig machte.
»Schluss damit«, brummte Lianne. Sie schlug die Tür zu ihrer Vergangenheit fest zu, bückte sich und kehrte die heruntergerieselten Sandkörner mit der Hand zusammen. Anschließend atmete sie tief durch, streute den Sand zurück auf die Lehne und verwandelte die winzigen Mineralkörnchen wieder zurück in hartes, schwarzes Plastik. Es dauerte nur Sekunden, bis der Spuk vorbei war und nichts mehr daran erinnerte, dass die Lehne kurz davor gewesen war, vollständig als goldfarbener Sand auf den Boden zu rieseln.
Erschöpft sank Lianne in sich zusammen, lehnte ihren Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen. Vielleicht sollte sie für heute Schluss machen. In diesem Zustand konnte sie unmöglich an dem Bilderrahmen aus Kirschholz arbeiten, der als Nächstes auf ihrer Auftragsliste stand. Im Moment würde sie alles aus dem Holz machen, nur keinen filigranen Rahmen.
Die Türglöckchen bimmelten und Lianne zuckte zusammen.
»Hallo?«, rief eine unbekannte, raue Stimme. »Ist jemand hier?«
»Einen Moment!« Lianne erhob sich, strich sich durch die kurzen Haare und verließ ihr Büro. Auf dem Weg setzte sie ihr professionelles Lächeln auf.
Innerlich noch etwas durchgeschüttelt, betrat Lianne den Verkaufsraum. In dessen Mitte stand ein großgewachsener, schlanker Mann, Mitte fünfzig. Er hatte braune Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Erste graue Strähnen zeigten sich an den Schläfen. Mit der Brille und dem hellgrauen, taillierten Jackett über einem weißen Hemd hatte er das Aussehen eines Bankangestellten oder eines Anwalts.
»Guten Tag«, grüßte Lianne freundlich. »Wie kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Ja, tatsächlich.« Der Unbekannte lächelte freundlich und etwas klingelte in Liannes Hinterkopf.
Sie ignorierte das eigenwillige Déjà-vu-Gefühl. »An was hatten Sie denn gedacht?«
»O nein, ich bin nicht wegen eines Möbelstücks hier«, wiegelte der Mann ab und kam auf Lianne zu. »Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich nicht mehr erkennen. Bin ich etwa so alt geworden?«
»Ich … ich verstehe nicht«, stammelte Lianne. Sie kniff die Augen zusammen und musterte nochmals das Gesicht des Mannes. Abermals überkam sie ein starkes Déjà-vu, aber sie konnte es nicht zuordnen.
»Dann stelle ich mich nochmals vor: Vanja Letov, ich hatte früher den Lehrstuhl für magische Zeitgeschichte inne. Wie geht es Ihnen?«
Er – nein, dey – streckte Lianne die Hand entgegen. Lehrkraft Letov war eine non-binäre Person und zusammen mit diesem Detail rauschte auch das restliche Wissen über Vanja Letov durch Liannes Gehirn. Dey hatte nicht nur irgendwo unterrichtet, sondern an der Cadill Academy.
Dem Ort, den Lianne mehr als alles andere auf der Welt vergessen wollte.
»Was machen Sie hier?«, fragte Lianne schwach, ohne Lehrkraft Letovs Hand zu ergreifen. Sie wich einen Schritt zurück, als wäre dey eine Bedrohung. »Und sagen Sie jetzt nicht, dass Sie nur eine ehemalige Schülerin besuchen wollen. Den Mist kaufe ich Ihnen nicht ab.«
Unvermittelt lachte Lehrkraft Letov. »Sie waren schon früher sehr scharfsinnig und ich bin ziemlich beeindruckt davon, wie gut Sie sich versteckt haben. Es hat mich viel Mühe gekostet, Sie aufzuspüren.«
»Die hätten Sie sich sparen sollen«, erwiderte Lianne kalt und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das kann ich nicht«, sagte Lehrkraft Letov, wobei deren Miene ernst wurde. »Sie werden es sicher in den Nachrichten gehört haben, dass seit einigen Monaten neue Gabenträger auf der Bildfläche erscheinen. Darunter war kürzlich auch ein Teenager mit Ihrer Fähigkeit. Deswegen will ich Sie –«
»Nein!« Das Wort hallte laut durch den Laden und Magie wallte in ihrem Inneren auf. Gerade noch rechtzeitig erlangte Lianne Kontrolle darüber, sonst hätte sich der Boden unter ihren Füßen in Sand verwandelt. Zur Sicherheit verschränkte sie die Arme, um ja nichts weiter zu berühren.
Tief atmete sie ein. »Ganz abgesehen davon, dass ich selbst nie echten Gabenunterricht erhalten habe, habe ich immer noch ein eigenes Leben zu führen. Und falls es Ihnen nicht aufgefallen ist, ich betreibe ein Geschäft!«
Lehrkraft Letov lächelte mild. »Natürlich weiß ich, dass Sie ein eigenes Leben zu leben haben – so wie alle anderen in Ihrer Generation mit einer Gabe. Bitte sehen Sie sich die Konditionen für Ihre Anstellung als Mentorin an. Sie sind äußerst fair.«
Lianne schüttelte den Kopf. »Das ist mir egal, ich komme nicht mit Ihnen zurück zur Akademie. Auf keinen Fall.«
»Warum nicht?«
»Das fragen Sie? Ernsthaft?« Lianne schnaubte sarkastisch und fügte hinzu: »Die wenigen Monate an der Cadill waren die Hölle für mich. Ihnen wird das sicher entfallen sein, schließlich hatte ich nur ein paar Stunden bei Ihnen Unterricht. Aber ich habe meine Zeit an der Akademie nicht vergessen und es friert eher die Hölle zu, als dass ich auch nur einen Fuß auf die verdammte Insel setze.«
»Ms. Eriksen.« Lehrkraft Letov seufzte und Bedauern stand in deren schwarz-braunen Augen. »Es hat sich vieles geändert. Ich habe vor acht Jahren die Schulleitung übernommen und ich versichere Ihnen, dass sich vieles zum Besseren geändert hat.«
»Es bleibt bei einem Nein«, beharrte Lianne. »Wenn sich so viel geändert hat, dann wird der Junge oder das Mädchen mit meiner Gabe es schon schaffen. Sorgen Sie einfach dafür, dass die Lehrkräfte und die anderen Schüler ihn oder sie nicht wie einen Aussätzigen behandeln und das Gefühl geben, als wäre er oder sie weniger wert als Dreck.«
»Die Vergangenheit kann nicht geändert, vergessen oder ausgelöscht werden. Wir können Sie nur akzeptieren und versuchen, neue, gute Erinnerungen zu erschaffen. Ms. Eriksen, wenn Sie –«
»Hören Sie auf!«, forderte Lianne heftig. »Ihre altklugen Sprüche können Sie sich sonst wohin stecken. Bei allem Respekt, bitte verlassen Sie sofort meinen Laden und belästigen Sie mich nie wieder!«
Kummer zeichnete sich auf Lehrkraft Letovs Gesicht ab. Lianne wehrte sich gegen das Unbehagen, weil sie dey so angefahren hatte.
Sie rechnete schon damit, dass dey weiter auf sie einreden würde. Innerlich wappnete sie sich für all die Argumente, die dey vorbringen könnte. Irgendein Mist von wegen moralischer Verpflichtung oder Dienst an der Allgemeinheit. Dabei wurde schon seit Jahrzehnten darüber diskutiert, dass die Gabenträger nicht mehr nötig waren, um die menschliche Dimension zu beschützen. Immerhin waren seit dreihundert Jahren keine Risse zu feindlichen mehr entstanden.
»In Ordnung«, sagte Lehrkraft Letov zu Liannes Überraschung. Dey zog einen Umschlag aus deren Jackett und legte ihn auf den Verkaufstresen.
»Werfen Sie trotzdem einen Blick hierauf, bitte. Die Cadill Academy ist die einzige Chance für nicht nur diejenigen mit einer Magiebegabung, sondern auch für die jungen Menschen, bei denen sich die Reinform der Gaben manifestiert hat. Nur auf der Insel können sie ihre Kräfte in den Griff bekommen. Auch Jonas hat es verdient, eine Lehrerin zu haben.« Eine kurze Pause entstand, ehe Lehrkraft Letov ergänzte: »Genauso, wie du damals einen Lehrer verdient gehabt hättest.«
Mehr sagte dey nicht, sondern wandte sich ab und verließ den Laden. Abermals bimmelten die Glöckchen an der Tür und klangen dabei wie Totenglocken.
»Verdammte Scheiße.« Haltsuchend griff sie nach dem Tresen, ihr ganzer Körper zitterte und kalter Schweiß bedeckte ihre Haut. Sie brauchte geraume Zeit, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Wie in Trance wankte sie zum Eingang, drehte das Schild auf ›geschlossen‹ und verriegelte die Tür. Sie war erschöpft und in ihrem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. In diesem Zustand konnte sie nicht weiterarbeiten.
Also schnappte sie ihre Sachen und machte sich auf den Heimweg – ständig darum bemüht, einfach an nichts zu denken. Denn andernfalls würde sie unter einer Lawine aus Erinnerungen begraben werden, die Lehrkraft Letov mit deren Besuch losgetreten hatte.
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